Setomā, DienvidigaunijaUrheber des Bildes: Priidu Saart

Estnische Volkstrachten – Teil der nationalen Identität

Die Volkstrachten Estlands erzählen faszinierende Geschichten, wenn man sie lesen kann.

Ilze Salnāja-Verva

Estlands Volkstrachten sind weit mehr als nur traditionelle Kleidung – sie sind gelebte Geschichte, stolze Identität und Ausdruck regionaler Vielfalt.

Von den bunten Röcken der Insel Kihnu bis zu den edlen schwarzen Mänteln aus Mulgimaa erzählt jedes Detail eine eigene Geschichte. Noch heute werden die Trachten zu Festen, auf der Straße oder beim Präsidentenempfang getragen – lebendig, kreativ und mit viel Liebe zum Handwerk.

Entdecken Sie die faszinierende Welt der estnischen Trachten und erfahren Sie, was sie so besonders macht.

Das Tragen der Volkstracht ist in Estland noch immer modern!

Leinenhemden, gestreifte Wollröcke, Kniehosen für Männer, die mit Bändern gebunden werden, gestrickte Socken, Handschuhe, Pullover, mit Perlen bestickte Kronen, Hauben, feine Silberspangen und Schmuckstücke sowie ganz unterschiedliche Schuhe – von Bastschuhen über Stiefel bis zu Lederschuhen: das sind die Bestandteile der estnischen Volkstrachten.

Die vollständige Festtagstracht mit Schultertüchern, Schmuck und Schuhen wurde zu besonderen Anlässen getragen – etwa bei Hochzeiten oder größeren Feiern –, während die Alltagskleidung schlichter und funktioneller war, um bequem und pflegeleicht zu sein.

Eine wahre Parade der estnischen Trachten kann man bei den Sänger- und Tanzfesten erleben. Sogar beim Empfang des Präsidenten am 24. Februar, dem estnischen Unabhängigkeitstag, darf man in Volkstracht erscheinen.

Besonders bekannt sind die Trachten aus Setomaa, von der Insel Kihnu sowie aus dem Landkreis Mulgimaa. Die starke Trachtentradition ist einer der Gründe, warum die ganze Insel Kihnu zum UNESCO-Welterbe gehört.

Eine Frau in Tracht mit einer Ährengarbe

Urheber des Bildes: Leon Metsallik, Visit Estonia

Die Volkstrachten Estlands zeichnen sich durch Vielfalt aus

Die meisten heutigen Volkstrachten stammen aus dem 19. Jahrhundert, als Estland 107 Gemeinden zählte. Hinzu kamen einige Regionen außerhalb dieser Kirchspiele, wie Setomaa, die Dörfer der Altgläubigen, die Insel Kihnu oder die Siedlungen der Küstenschweden.

Jede Gemeinde hatte ihre eigene, unverwechselbare ethnografische Tracht. Charakteristisch sind dabei die spezifischen Farbkombinationen und Streifenmuster der Röcke.

Im Süden Estlands – abgesehen von den Seto und Mulgi – sind die Trachten in gedeckteren Farbtönen gehalten, und die Hauben erinnern an die Baumwollhauben Lettlands. In der Gegend um Pärnu und an der Küste werden die Röcke bunter, die Hauben ähneln Festtagskappen mit langen Bändern, Silberschmuck und bunt bestickten Strümpfen.

Im Nordosten näht man besondere Hemden mit breiten Rüschen, deren Ränder mit bunten Stickereien verziert sind, was sie besonders prächtig macht. Dazu kommen schöne Gürtel, die mehrlagig um die Taille gewickelt werden und deren Enden unsichtbar bleiben. Die Tracht verheirateter Frauen wird zusätzlich durch prachtvolle Hauben und feine Schürzen ergänzt.

Teilnehmerinnen beim Sänger- und Tanzfest

Urheber des Bildes: Merili Reinpalu, Visit Estonia

Die Insel Kihnu – gelebtes Kulturerbe

Die Insel Kihnu wurde wegen ihres einzigartigen kulturellen Erbes und der Lebendigkeit ihrer Traditionen in die Liste des immateriellen Kulturerbes der UNESCO aufgenommen.

Die Bewohner der Insel sind orthodox und lernen schon in der Schule ein traditionelles Instrument – Geige oder Akkordeon. Für die Fortbewegung auf der Insel nutzt man umgebaute Motorräder mit Beiwagen, die oft von Frauen gefahren werden, da die Männer traditionell entweder zur See fahren oder auf Dienstreise sind.

Noch heute tragen die meisten der rund 700 Einwohner Kihnus die Volkstracht ganz oder zumindest teilweise. Im Sommer sitzen ältere Frauen vor den Haustüren und stricken. Die Stricknadeln ruhen das ganze Jahr kaum, und jeder freie Moment wird genutzt, denn auf der windigen Insel ist Wärme wichtig. Weit über die Insel hinaus sind die Pullover *troi* mit eingewebten kleinen Sternmotiven bekannt, ebenso wie Handschuhe und Strümpfe.

Jede Kihnu-Frau, die etwas auf sich hält, webt im Laufe ihres Lebens bis zu 40 Röcke (*kört*), näht Schürzen und Tücher und webt mindestens ein Paar Gürtel.

Die Stoffe für Tücher und Schürzen wurden früher von Kapitänen aus fernen Ländern wie Irland, Amerika oder Russland mitgebracht. Heute geschieht das meist per Post. Wichtig ist nach wie vor das beliebte „Nieren“-Muster, das sich von dem der Nachbarinnen unterscheiden muss. Außerdem entstehen besondere Familienkollektionen.

Kihnu-Insulaner beim Musizieren

Urheber des Bildes: Priidu Saart, Visit Estonia

Erkunden Sie die Insel Kihnu!

Urheber des Bildes: Hans Markus Antson, Visit Estonia

Der Kulturraum der Seto 

Setomaa, das historisch gewachsene Siedlungsgebiet der Seto (oder auch "Setukesen"), war schon immer ein wenig anders – auch in Bezug auf die Trachten.

Während der Rest Estlands unter dem Einfluss der deutschbaltischen Gutsherren stand, unterstanden die Seto der Jurisdiktion des russischen Klosters Petschory. 

Die Tracht der Seto – Ausdruck von Status und Tradition

Früher verriet die Tracht der Seto viel über die Trägerin oder den Träger: Alter, sozialer und wirtschaftlicher Status sowie Lebensstil waren auf den ersten Blick erkennbar.

Unverheiratete Frauen trugen ein hamõh (Hemd) mit kitasnik oder sukman (Sarafan aus Leinen oder Wolle), manchmal auch einen ryõõ (Sarafan mit abnehmbaren Ärmeln), dazu võõ (Gürtel), Schürze, Strümpfe, Schuhe oder Stiefel, Kopftuch oder besticktes Band und Schmuck. Verheiratete Frauen trugen ein Leinenhemd und ein Kopftuch, das beim Verlassen des Hauses mit einem weiteren Tuch bedeckt wurde. Zu festlichen Anlässen schmückten sie sich zusätzlich mit Seidenbändern, gold- oder perlenbestickten Bändern und weiterer Seide. Als Oberbekleidung dienten räbik (Wollhemd), pihtokõnõ und Pelz.

Auch die Männerkleidung bestand aus hamõh (Hemd), kaadsa‘ (Hosen), vüü (Gürtel), Strümpfen oder Taschentüchern, Stiefeln, Bast- oder Lederschuhen. Zu den Oberteilen gehörten räbik, Wollhemd, härmäk, pihtokõnõ, jedronakampson (Jacke) und Pelz. Kinder trugen meist schlichte Leinensachen.

Typisch für Seto-Frauen sind die silbernen Schmuckstücke – das bekannteste Symbol dieser Kultur: große Broschen, aus Münzen gefertigte Ketten (tsäposka: kaalakõrd, rahadsõ, rublji, sangolitsõ u. a.) sowie gedrehte Ketten (keerdokeedi, pyyrdõ). Männer nutzten kleine Broschen zum Verschließen von Hemd und Kragen sowie schlichte, geflochtene Gürtel.

Seto-Museen

Hier können Sie die Volkstrachten manchmal sogar anprobieren!

Schwarz trifft bunt: Trachten aus Mulgimaa

Eine der bekanntesten Trachten Estlands ist der Wollmantel aus Mulgimaa. Besonders populär wurde er durch den früheren estnischen Präsidenten Toomas Hendrik Ilves.

Im Kreis Mulgimaa trugen sowohl Frauen als auch Männer Mäntel, während in anderen Teilen Estlands Frauen meist Jacken bevorzugten.

Der Mulgi-Mantel ist schwarz. Früher färbte man braune Schafwolle oder Stoff schwarz, indem man ihn in eisenhaltiges Moorwasser tauchte. In der Gemeinde Halliste hatten die Mäntel der Frauen graue oder braune Krägen, während die der Männer blau waren. Wohlhabendere Mulgi ließen die Ärmel und das Futter ihrer Mäntel aus rotem, kostbarem Stoff fertigen. Die Mäntel sind mit einem roten, speziell gewebten, dickeren Band verziert, das entlang des Mantelrands in Schlaufenmustern aufgenäht wird.

Beliebt – und bis heute erhalten – ist bei den Frauen auch der Hüftschurz, der in anderen Teilen Estlands längst verschwunden ist. Im Landkreis Mulgimaa war der Hüftschurz so verbreitet, dass sich darüber nur noch Beschreibungen und Stücke in Museumssammlungen erhalten haben. Die Schurze wurden aus weißem Leinen genäht und mit Stickereien in bunten Farben verziert – typischerweise in Blau, Rot, Gelb und Grün. Für das leuchtende Rot verwendete man Wurzeln der Krapp-Pflanze, für Gelb Birkenblätter.

Das für die roten Schlaufenmuster nötige Band wird mit einem speziellen Handarbeitswerkzeug  gefertigt.

Torupillitalu Brīvdienu mājas pirts

Urheber des Bildes: visitviljandi x

Die alle fünf Jahre stattfindenden estnischen Sänger- und Tanzfeste sind die Gelegenheiten, um diverseste Trachten Estlands live zu bewundern.

In diesem Sommer findet das große Sänger- und Tanzfest statt und es ist der perfekte Zeitpunkt, um nach Tallinn zu reisen und die Schönheit der estnischen Trachten in all ihrer Pracht zu bewundern.

Mehr zu den estnischen Trachten

In Museen und Ateliers kann man viele Traditionen rund um die Trachten kennenlernen.

Live-Events mit Trachten

Am besten entdeckt man die Trachten und ihre Details bei Sängerfesten, Ausstellungen, Festivals oder Jahrmärkten.

Mehr erfahren: die Geschichte hinter den Traditionen

Die estnischen Volkstrachten erzählen Geschichten von Heimat, Identität und vergangenen Zeiten.

Wer noch tiefer in die Wurzeln dieser Traditionen eintauchen möchte, findet im Folgenden einen Überblick über die wichtigsten Etappen der estnischen Geschichte – von der Hansezeit über die Sowjetzeit bis zur modernen Republik. 

Entdecken Sie, wie Estlands Weg zur Unabhängigkeit und andere historische Ereignisse auch das Alltagsleben und die Kultur geprägt haben:

Lassen Sie sich inspirieren ...

Ilze Salnāja-Verva