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Die Mulks waren die ersten wohlhabenden EstenQuelle: Jaanus Ree, Visit Estonia

Auf den Spuren der Mulks – ein Roadtrip durch Estlands Süden

Mulgimaa im Süden Estlands ist eine wunderschöne, kulturell reiche Region. Und in wirtschaftlicher Hinsicht war sie einst die reichste des Landes.
Felix Hau

Felix Hau

Autor und Estland-Fan

Da haben wir uns ja was vorgenommen!
Mehrere hundert Kilometer in zwei Tagen sollen es werden.

Und alles, um endlich die Geschichte und Kultur jenes Menschenschlages kennenzulernen, in den ich mich sofort verliebte, als ich zum ersten Mal hörte, wie er genannt wird: Es handelt sich nämlich um ... Mulks.

Ist das nicht niedlich?
Na, kommen Sie – wen erinnert das nicht an „Herr der Ringe“? :-)
Eben!

Tag 1: Aufbruch in Viljandi 

Der Morgen in Viljandi empfängt uns mit klarem Himmel und der angenehmen Frische eines estnischen Sommertages. Noch leicht verschlafen, doch voller Vorfreude auf das, was uns erwartet, steigen wir ins Auto. Unser Ziel? Mulgimaa, die geheimnisvolle Heimat der nicht weniger geheimnisvollen Mulks – eine Region, die reich an Geschichte, Kultur und gutem Essen ist.

Das Abenteuer Mulgimaa beginnt

Erster Stopp auf unserem Roadtrip: Siniallikas, eine sagenumwobene blaue Quelle. Sie liegt inmitten eines Waldes, kaum 30 Minuten von Viljandi entfernt, und wirkt, als wäre sie direkt einem estnischen Märchen entsprungen. Die Quelle ist ein meditativer Ort, mit kristallklarem, blau schimmerndem Wasser, das sich in kleinen Wellen bewegt, als hätte es seine eigene Seele.

Die Mulks haben der Quelle mystische Kräfte zugeschrieben. Hier machen wir einen kurzen Stopp, tauchen unsere Hände ins kühle Wasser – kann ja nicht schaden! – und lassen die Umgebung auf uns wirken …

Siniallikas, die blaue Quelle

Quelle: Siim Verner Teder, Visit Estonia

Von Siniallikas nach Õisu

Unsere nächste Station ist das Herrenhaus von Õisu. Das Anwesen liegt idyllisch eingebettet in einen weitläufigen Park, und schon bei der Ankunft spüren wir die Ruhe, die dieser Ort ausstrahlt. Der Park lädt zu einem Spaziergang ein, und wir lassen uns von der Schönheit der alten Bäume und den gepflegten Wegen verzaubern.

Das Herrenhaus selbst, ein inzwischen etwas abgeblättertes, aber erkennbar prachtvolles Gebäude im klassizistischen Stil, scheint in Privatbesitz zu sein; es wird gerade eine Gartenparty aufgebaut. Doch kurzes Googeln zeigt: das Haus dient heute als Berufsschule. Ist ja eigentlich auch kein Widerspruch, denn warum sollten Berufsschüler keine Gartenparty feiern? 

Wie auch immer: Man kann sich gut vorstellen, wie hier einst das adelige Leben pulsierte. Und irgendwie spürt man bereits den Stolz der Mulks, die einst Estlands Vorreiter in der Befreiung der Bauern aus der Abhängigkeit vom Adel waren.

Blick vom Herrenhaus Õisu nach hinten in den Park

Quelle: Meelis Sõerd, Visit Estonia

Abstecher

Denkmal für den Baltischen Weg an der estnisch-lettischen Grenze

Wir freuen uns zwar schon auf das authentische Mulgi-Mittagessen, aber wir haben noch Zeit. Und heute ist der 23. August, der 35. Jahrestag des berühmten „Baltischen Weges“. Unweit des Ortes Lilli, an der Grenze zu Lettland, gibt es ein Denkmal, das an diesen historischen Tag erinnert, an dem 1989 Millionen Bürgerinnen und Bürger aus den drei baltischen Staaten eine rund 600 Kilometer lange Menschenkette bildeten, die von Vilnius (Litauen) über Riga (Lettland) bis nach Tallinn (Estland) reichte.

Als wir ankommen, schmückt eine Gruppe von Lettinnen gerade das Denkmal und wir schauen dabei versonnen ein wenig zu. Sowohl meine Erinnerung an diesen legendären Tag, den ich als 19-Jähriger am deutschen TV verfolgte, als auch die Hingabe, mit der diese Frauen das Denkmal schmücken, sind insbesondere in diesen Tagen einfach berührend.

Denkmal "Baltischer Weg" an der lettisch-estnischen Grenze

Quelle: Felix Hau, Visit Estonia

Mittagspause in Abja-Paluoja: Mulgipuder in der Mulgi-Schenke

Langsam knurrt aber doch der Magen, und deshalb geht es jetzt zurück gen Norden, nach Abja-Paluoja. Zwischendurch machen wir einen kurzen Abstecher an den hübschen See Ruhijärv, der jetzt, im Sommer, von Seerosen überzuquellen scheint.

In der Mulgi-Schenke („Mulgi Kõrts“) erwartet uns ein besonderes Highlight: Mulgipuder, das berühmte Gericht der Mulks. Diese deftige Mischung aus Kartoffeln, Gerste und Speck ist genau das, was wir nach den ersten Abenteuern brauchen.

Die Kneipe selbst ist rustikal und gemütlich, mit dunklen Holzbalken und einer Atmosphäre, die die Tradition der Region atmet. Wir setzen uns in den netten Innenhof – Estlands Sommer muss man nutzen! – und während wir den Teller leeren, erfahren wir vom Wirt, was wir bereits ahnten: dass die Mulks nämlich nicht nur für ihre Eigenständigkeit, sondern auch für ihre Küche bekannt sind. Völlig zu Recht!

Mulgipuder in der Mulgi-Schenke

Quelle: Felix Hau, Visit Estonia

Karksi 

Nach einem abschließenden Kaffee geht es weiter nach Karksi, einem Ort voller Geschichte und faszinierender Architektur. Hier, im Gutshof und Park von Karksi, spüren wir deutlich die Spuren der Vergangenheit. Die Ruinen der Ordensburg, die auf einer Anhöhe über dem Tal thronen, wirken majestätisch und geheimnisvoll zugleich – obwohl, außer dem imposanten Eingang, kaum etwas davon übrig geblieben ist. Das Urstromtal unter uns scheint hingegen endlos, und die Stille des Ortes lässt uns gedanklich in die Zeit der Ritter und Kreuzzüge reisen.

Ein kurzer Spaziergang führt uns zur Peterskirche, einer kleinen, aber beeindruckenden Kirche mit einer ungewöhnlichen Architektur. Sie hat ein schiefes Türmchen, das so wirkt, als habe es den rauen Winterstürmen der Region nicht immer standhalten können. Doch gerade das verleiht ihr ihren ganz eigenen Charme.

Die Peterskirche in Karksi

Quelle: Maire Torim, Visit Estonia

Ein Hauch von Luxus im Schloss Wagenküll (who t.. f… is Alice?)

Langsam neigt sich der erste Tag unseres Roadtrips dem Ende entgegen, und wir steuern auf das absolute Highlight zu: das Schloss Wagenküll, auch bekannt als Gutshof Taagepera. Als wir durch das imposante Tor fahren, fühlen wir uns, als wären wir in eine andere Zeit versetzt. Das Schloss, ein majestätisches Gebäude im Art-Nouveau-Stil, ist heute ein gediegenes Hotel mit Restaurant und SPA-Bereich, und wir können es kaum erwarten, dort einzukehren.

Nach dem Check-in erwartet uns ein köstliches Abendessen im prächtigen Speisesaal. Inmitten von hohen Decken, Kronleuchtern und edlem Holz genießen wir die estnische Küche auf hohem Niveau.

Der Tag könnte mit einem entspannenden SPA-Besuch enden – und ich empfehle den hübschen SPA-Bereich eindringlich! –, aber ich bin kein großer Wellness-Fan und trinke lieber noch ein Glas Wein auf der Terrasse.

Schloss Taagepera und Schloss-SPA Wagenküll

Quelle: Schloss Taagepera, Visit Estonia

PS

Die Leitung des Schlosses hatte jüngst übrigens eine Idee, die nicht bei allen Besuchern des ehrwürdigen SPA-Hotels gut ankommt: Ein Teil des Gartens wurde zum Wunderland umgebaut, zu Alices Wunderland, um genau zu sein. Beeindruckend ist es schon … und sagen wir mal so: Den Kindern gefällt’s – und den Letten, die reichlich zu Besuch kommen. :-) 

Tag 2: Frisch ausgeruht und on the road again

Der zweite Tag beginnt früh, und nach einem ausgiebigen Frühstück im Schloss machen wir uns auf den Weg zu neuen Abenteuern. Unser erster Stopp steht ganz im Zeichen der Musik!

Das Klaviermuseum und das Mulgi-Erlebniszentrum

Das Estnische Nationale Klaviermuseum ist ein wahres Juwel für Musikliebhaber und bietet eine Sammlung von historischen Klavieren, die sowohl optisch als auch akustisch beeindrucken. Wir haben die Möglichkeit, einige der Instrumente selbst zu bespielen – ein magischer Moment, in dem die Geschichte der Musik zum Leben erwacht ... Naja – wenn man mal davon absieht, dass ich nicht Klavier spielen kann und es für die Geschichte der Musik insofern das Sinnvollste wäre, wenn sie das Intermezzo ganz schnell vergäße.

Nicht weit von den Klavieren entfernt liegt das Mulgi-Erlebniszentrum, ein modernes Museum, das uns mit einer interessanten interaktiven Ausstellung und spannenden Einblicken in die Geschichte und Kultur der Mulks begeistert. Auch im Außenbereich gibt es einige interaktive Mitmachstationen – und jede Menge Tiere, so dass auch kleinere Besucher ihre Freude haben werden.

Und es gibt hier – großer Gott! Segne diese Mulks! –, täglich frisch zubereitet und noch warm serviert, diese wunderbaren kleinen und für Mulgimaa typischen Backwaren. Man nennt sie „Mulgikorb“ und sie machen definitiv süchtig!

Führung durchs Mulgi-Erlebniszentrum

Quelle: Felix Hau, Visit Estonia

Hübsche Ruinen und ein Mausoleum

Nicht weit entfernt stoßen wir auf die Ruinen der Ordensburg Helme, die einst eine wichtige Festung war. Heute sind nur noch arg zurechtgestutzte Überreste erhalten. Und die Natur scheint mit einigem Aufwand davon abgehalten zu werden, sich diesen Platz zurückzuerobern.

Barclay de Tolly war ein russischer General deutschbaltisch-schottischer Abstammung, der im napoleonischen Krieg eine bedeutende Rolle spielte. Googlen Sie ihn. Er lebt nicht mehr, aber wir besuchen ihn trotzdem. Sein Mausoleum ist ein beeindruckendes Denkmal, das inmitten eines friedlichen Parks steht. Die Atmosphäre hier ist würdevoll und erinnert uns an die bewegte Geschichte der Region.

Die Ruinen der Ordensburg Helme

Quelle: Sven Zacek, Visit Estonia

Gutshoftour: Von Tõrva zurück nach Viljandi

In Tõrva treffen wir dann auf die charmante Mischung aus estnischer Kleinstadt-Idylle und moderner Kultur. Die Bewohner von Tõrva scheinen stolz auf ihre Wurzeln in Mulgimaa zu sein; schön zu sehen! Hier nehmen wir einen Imbiss und machen eine kurze Verschnaufpause.

Unser nächstes Ziel auf dem Rückweg nach Viljandi ist der Gutshof Uue-Suislepa, ein hübsches klassizistisches Anwesen, das die Eleganz vergangener Zeiten ausstrahlt. Es dient heute als Bibliothek und Kindergarten, nachdem hier lange Jahre die Schule residierte. Die Bäume im Park rascheln sanft im Wind – von hier stammt eine ehemals estlandweit bekannte Apfelsorte –, und das Herrenhaus steht majestätisch zwischen ihnen.

Und warum eigentlich nur einen Gutshof anschauen, wenn man auch zwei haben kann? Also machen wir noch einen Schlenker zum Gutshof Kärstna, in dem heute ebenfalls die örtliche Bibliothek und ein Kindergarten untergebracht sind, der allerdings von neoklassizistischer Geburt ist.

Und natürlich darf auch Heimtali nicht fehlen. Es ist ein kleines Dorf, liegt vor den Toren Viljandis und hier gibt es allerhand zu entdecken: Museum, ehemalige Brennerei (in Privatbesitz; kann nur von außen besichtigt werden),  Park, Pferdezucht … Wir beschränken uns auf den Gutshof (im Bild) – klassizistisch einmal mehr. Denn zum einen sind wir gerade im Gutshof-Fieber und zum anderen wirklich müde von all den Eindrücken. Noch sind Sommerferien in Estland, deshalb ist es hier ruhig; denn auch in diesem großzügig geschnittenen Gutshaus ist eigentlich eine Schule untergebracht.

Das Gutshaus Heimtali

Quelle: Felix Hau, Visit Estonia

Die Geschichte der Mulks

Als wir schließlich wieder in Viljandi ankommen, sind wir zwar erschöpft, aber glücklich. Mulgimaa hat uns vollkommen in seinen Bann gezogen. Hinter der Idylle dieser Region steht eine beeindruckende Geschichte des Aufstands, der Cleverness, harter Arbeit und des wirtschaftlichen Aufstiegs der Mulks.

Die Mulks waren die ersten Esten, die nach Jahrhunderten der Fremdherrschaft eigenständig wurden. Sie erlangten ihre Freiheit nicht durch Revolution, sondern durch einen schlauen Schachzug: Sie kauften ihre Höfe den adeligen Großgrundbesitzern ab. Diese Welle des Hofkaufs, die im 19. Jahrhundert begann, machte die Mulks zu wirtschaftlich unabhängigen Bauern. Was ihren Wohlstand außerdem begünstigte, war der Anbau von Flachs zur Zeit des amerikanischen Bürgerkrieges. Die Baumwoll-Lieferengpässe aus den USA trieben die Nachfrage nach Flachs in Europa in die Höhe, und die Mulks nutzten die Gelegenheit geschickt, um ihren Reichtum zu mehren.

Doch dieser Erfolg brachte auch Vorurteile mit sich. Früher galten die Mulks in Estland als arrogant, unzugänglich und geizig – Attribute, die in direktem Zusammenhang mit ihrem wachsenden Wohlstand standen. Ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit und ihr Stolz machten sie für viele zu einer Art Außenseiter. Heute jedoch hat sich dieses Bild gewandelt. Die Mulks gelten in der estnischen Restgesellschaft zwar bisweilen noch immer als kauzig, aber man achtet mittlerweile ihren unternehmerischen Geist und ihre Unabhängigkeit, die sich übrigens auch in einem eigenen Dialekt ausdrückt.

PS

Über die Städte der Region verteilt finden sich charakteristische Holzskulpturen. Wir wussten das nicht, als wir losfuhren. Es wäre sonst auch eine nette Idee, den Roadtrip von Skulptur zu Skulptur zu unternehmen.

Mulgi Holzskulpturen

Quelle: Kris Süld, Visit Viljandi

Abschied und Ausblick

Dieser Roadtrip war mehr als nur eine Fahrt von einem Ort zum nächsten – es war eine Reise durch die Geschichte einer Region und ihrer Menschen, die uns beeindruckt hat. Mulgimaa ist nicht nur eine Gegend, sondern irgendwie auch ein Lebensgefühl.

Und als wir abends in Viljandi im Café Fellin bei einem leckeren Essen Bilanz ziehen, sind wir sicher: Das war nicht unser letzter Ausflug zu den Mulks.

Die Stationen des Roadtrips im geographisch-chronologischen Überblick:

Lassen Sie sich inspirieren ...

Felix Hau

Felix Hau

Autor und Estland-Fan