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Kihnu-Frauen in ihren traditionellen gestreiften RöckenQuelle: Ken Oja, Visit Estonia

Die Röcke der Insel Kihnu als soziales Signalsystem

Es ist nicht dem Zufall überlassen, welche Farben die gestreiften Röcke haben, die die Bewohnerinnen Kihnus tragen.

Auf der Insel Kihnu werden Traditionen bewahrt. Eine der augenfälligsten sind die farbig gestreiften Röcke, die von den Frauen der Insel bis heute selbst hergestellt und nach einem bestimmten System getragen werden.

Die estnische Insel Kihnu ist vielen Menschen inzwischen ein Begriff. Hier besteht so etwas wie das letzte Matriarchat Europas, denn es ist eine Insel der Frauen. Frauen haben das Sagen, sie prägen die Inselkultur und sie sind es auch, die die alten Bräuche bewahren und Traditionen nach wie vor mit Leben füllen.

Zur Dominanz der Frauen kam es hier historisch, weil die Insulaner zum großen Teil vom Fischfang lebten und die Männer oft tagelang am Stück zur See fuhren. Wohl oder übel mussten sich die zurückbleibenden Frauen mit ihren Kindern selbst durchschlagen, was sie natürlich mit Bravour taten.

Mit gesellschaftlicher Bedeutung ausgestattet: die Inseltracht

Neben der Arbeit in der kleinen Landwirtschaft, die hier von fast jeder Familie privat betrieben wird, war es vor allem die Herstellung von Kleidung, mit denen die Frauen sich beschäftigten. Es gibt reichlich Wolle auf der Insel – so gut wie jeder Haushalt hält Schafe – und so wurde hier eigentlich schon immer geschoren, gesponnen, gewebt und gestrickt, alles, von A bis Z, von den Insulanerinnen.

Seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich eine bestimmte Tracht der Inselbewohnerinnen und -bewohner entwickelt, die bis heute Verwendung im Alltag findet. Nicht jede Kihnu-Frau trägt sie heute noch wirklich täglich – die älteren Frauen jedoch durchaus! –, aber allerspätestens zu gesellschaftlichen Anlässen, Festen und Feiern ist sie omnipräsent.

Am herausstechendsten sind die farbig gestreiften Röcke, die man hier „kört" nennt. Alle Frauen auf Kihnu stellen sie selbst her (auch die jungen Mädchen lernen das noch), wobei die Farbgebung einem bestimmten System folgt. An der jeweilig getragenen Insel-Tracht kann man zum Beispiel ablesen, in welchem Lebensstadium sich die Trägerin befindet: Ist sie verwitwet, verheiratet, unverheiratet? Ist der Tod des Gatten schon länger her?

Verheiratete Frauen tragen über ihren Röcken eine Schürze, die sie lediglich nach der Geburt eines Kindes abnehmen dürfen, bis das Kind getauft wurde.

Röcke im Museum auf Kihnu

Quelle: Priidu Saart, Visit Estonia

Ein Beispiel für das vielfältige Farbsystem der Kihnu-Röcke

Die eigentliche Farbe des Kihnu-Rockes ist rot. Rot gilt als Farbe des Lebens, die vor Krankheit und Tod schützt. Schaut man sich die farbigen Röcke und ihre Trägerinnen an, wird man feststellen, dass Rot in den Röcken der Mädchen und jüngeren Frauen dominiert. Schwarz bzw. ein sehr dunkles Blau werden in den Rock gewoben, um Trauer zu signalisieren.

Je mehr die Farbe eines getragenen Rockes in Richtung Schwarz tendiert, umso kürzer ist der Tod eines geliebten Menschen her. Mit zunehmendem zeitlichen Abstand zum Verlust wird auch die Rockfarbe wieder lebensfroher; Rottöne dominieren. Es sei denn, man ist in einem Alter angekommen, indem immer wieder viele nahe Menschen sterben; dann wird man vermutlich den Rest seines Lebens mit tendenziell blauen Röcken verbringen.

Übrigens: Auch der schwärzeste Rock verfügt unten am Saum über einen horizontalen roten Streifen; er schützt die Trägerin auch in größter Trauer vor weiterem Unglück und Krankheit.

Auch für alle gesellschaftlichen Anlässe gibt es einen Farbcode. Bei einer Beerdigung beispielsweise kann man an der Rockfarbe das ungefähre Verwandtschaftsverhältnis der Besucher zum Verblichenen ablesen. Während die Hautptleidtragende (zum Beispiel die Witwe) einen schwarzen Rock trägt, sind in den Röcken der anderen Trauergäste mehr oder weniger hellere Töne zu finden, je nach Nähe zum Verstorbenen.

 

Frau mir traditionellem Rock auf Kihnu

Quelle: Priidu Saart, Visit Estonia

Viele Röcke im Schrank

Da dieses gesellschaftliche Signalsystem anhand der Rockfarben viele Zwischentöne kennt und sehr individuell ist, liegt es nahe, dass jede Frau auf Kihnu viele verschiedene Röcke mit unterschiedlicher Farbgebung haben muss, um stets passend angezogen zu sein.

Und in der Tat ist das so: Die Anzahl der Röcke – im Schnitt sind es um die 20 Stück pro Trägerin, oft noch viel mehr – geben damit auch Auskunft über wirtschaftliche Stellung und Vermögen einer Familie. Denn all die Röcke – vergessen wir das nicht – müssen aus der Wolle der eigenen Schafe auch erst einmal hergestellt werden.

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