"Jetzt hat halt Pärnu unseren Schlamm!" – Mit Jonna durch Haapsalu
Haapsalu ist ein hübsches westestnisches Städtchen. Richtig interessant wird es, wenn man es sich von einer Einwohnerin zeigen lässt.
Unser Autor ist bekennender deutscher Estland-Fan. Er hat für uns schon seine Lieblingsinsel Saaremaa besungen; diesmal wirft er sich für das hübsche Städtchen Haapsalu im Westen des Landes in die Bresche.
Bei meinem letzten Aufenthalt in Haapsalu habe ich eine langjährige Einwohnerin kennengelernt: Jonna. Sie wurde in den Achtzigerjahren durch die unhintergehbar weise Weltenlenkung namens „KPdSU" aus einem anderen Teil Estlands als Lehrerin in die westestnische Stadt versetzt und ist dort geblieben, weil sie sich verliebt hat. In die Stadt, wohlgemerkt. Ich kann das gut verstehen, denn Haapsalu ist einfach liebenswert.
Sonnenuntergang in Haapsalu
Es ist ein malerisches Städtchen, das man unbedingt besuchen sollte!
Die Dame ist außerdem natürlich waschechte Estin. Das bedeutet vor allem drei Dinge: So schnell wirft sie kein Sturm aus der Bahn; sie hat diesen wunderbaren Humor; und sie denkt kein bisschen daran das zu tun, was man den Esten eigentlich nachsagt: zurückhaltend zu sein.
Auf meine Frage, warum Haapsalu aus Sicht der Einwohner für Touristen eine Reise wert sei, muss sie nicht lange überlegen. „Wenn du echte Haapsaluer fragst, kommen da bestenfalls fünf Dinge zusammen. Das ist hier ja nicht New York" spricht sie, nimmt einen großen Schluck aus ihrer Wasserflasche und lacht rauh. „Und das fünfte zählt eigentlich gar nicht."
„Ok", schmunzele ich. „Und welche fünf ... äh ... vier Dinge sind das?"
„Komm mit!"
1. Der Zarenbahnhof
Unsere erste Station ist der wunderschöne alte Bahnhof, der ganz aus Holz errichtet wurde und dessen für so eine kleine Stadt übertrieben lang erscheinender Bahnsteig auf ganzer Strecke überdacht ist.
„Das Ding hier ist 216 Meter lang. Zweihundertsechzehn Meter! – Rate, warum!"
„Es könnte ..." beginne ich laut zu denken.
„Genau so lang war der Zug des Zaren. Der hat diesen Bahnhof vor allem für sich und seinen Hofstaat gebaut. Und überdacht ist der Bahnsteig, damit beim Aussteigen keine Zofe nass wird. Da vorne, wo jetzt das Eisenbahnmuseum untergebracht ist, da war der Zarentrakt."
„Was ist eigentlich mit der Bahnverbindung passiert? Haapsalu war doch mal an Tallinn angebunden ..."
„Hör bloß auf! Sie kriegen's einfach nicht hin. Seit Jahren demonstrieren wir hier in jedem September für den Neubau der Strecke. Und nichts passiert."
Während wir entlang der Reste alter Bahnschienen Richtung Stadtzentrum laufen, bekomme ich die erste von vielen schönen Anekdoten zu hören: „Es gab an diesem Bahnhof während der gesamten Zeit seines Bestehens genau einen Unfall", erzählt meine kundige Begleiterin. „Ein besoffener russischer Lokfüher hat erst den Bahnhof übersehen, dann die Bremse nicht gefunden und ist schließlich mit dem ganzen Zug genau hier in die See gerast."
Quelle: Rivo Veber, Visit Estonia
In diesem Moment realisiere ich, dass wir auf einer Art Damm zwischen der Ostsee zur Linken und einer ziemlich großen, komplett mit Schilf bewachsenen Senke zur Rechten entlanglaufen. Ich will gerade fragen, als Jonna stöhnt: „Dieses Schilf! Das muss eigentlich dringend weg. Es macht hier alles kaputt. Aber wer soll das bezahlen? Haapsalu ist arm wie eine Kirchenmaus." Sie nimmt einen weiteren Schluck aus ihrer Wasserflasche und streckt dann den Zeigefinger empor. „Wie eine Kirchenmaus mit neun Kindern!"
2. Wellness-SPAs und Heilschlamm
Wir sind am Bodden angelangt, diesem seeartigen Meer-Gewässer, um das Haapsalu sich gruppiert.
„Du kennst bestimmt die ganzen poshen Wellness-Oasen in Pärnu, oder? Und ich sag dir jetzt, wo die ihren Heilschlamm herhaben: von hier! Wir waren nur mal wieder zu blöd, das marketingtechnisch zu nutzen. Jetzt hat halt Pärnu unseren Schlamm und die ganzen Wellnessgäste."
„Aber ihr habt doch hier eine ziemliche Heilbad-Tradition ..." versuche ich die Situation zu entspannen, denn meine Begleiterin, das merke ich, redet sich gerade in Rage.
„Hätten haben können!" entgegnet sie wirsch. „Konditional II! Die Bedingungen waren prima. Wir hatten hier diesen Dr. Hunnius, der den Heilschlamm populär gemacht hat. Aber ein einmal gelegtes Ei ist eben noch kein ausgewachsenes Huhn! Und außerdem haben die Sowjets dazwischengefunkt."
In der Tat bemüht Haapsalu sich seit vielen Jahren darum wieder Anschluss an seine große Kurbad-Tradition zu finden. Und das gelingt auch halbwegs. Diese Tradition ist einer der Hauptgründe, aus denen Menschen Haapsalu besuchen.
Quelle: Ken Oja, Visit Estonia
Allerdings hat man hier heute bislang vor allem zwei Arten von Gästen: Senioren und finnische Senioren. Da ist noch Luft in viele andere Richtungen. Und es ist dem sympathischen Haapsalu zu wünschen, dass es in Bälde wieder ein kleiner, feiner touristischer Magnet wird – mit jungen hippen Besucher*innen, die das ausgelassene Kurbaden in historischem Ambiente für sich entdecken.
Die beiden großen SPA-Hotels – das Fra Mare Thalasso SPA mitten im Kiefernwald am Ostseestrand und das SPA Hotel Laine am Bodden im Zentrum – haben einen ausgezeichneten Ruf. Ich habe in beiden bereits übernachtet und kann sie nur wärmstens empfehlen. Direkt neben dem Laine befindet sich übrigens eine estlandweit renommierte neurologische Reha-Klinik.
3. Die Tschaikowksy-Bank
Just hinter dieser Klinik biegen wir um die Ecke und stehen auf der berühmten Haapsaluer Promenade; auf diesem Abschnitt heißt sie „Schokoladen-Promenade" (ich habe die Geschichte dazu nicht ganz verstanden; irgendwie geht es dabei erstaunlicher Weise um Kaffee). Ich genieße den Blick auf die See, als Jonna mir mit dem Finger auf die Schulter klopft und eine Kopfbewegung nach rechts macht. „Da, die Tschaikowksy-Bank!"
Natürlich kenne ich die Geschichte zu dieser Bank! Der berühmte russische Komponist soll sich einst in Haapsalu verliebt, etliche Sommerurlaube hier verbracht, stets auf dieser Bank gesessen und mit Blick aufs Meer einige seiner bekannten Werke komponiert haben ...
„Nichts davon stimmt", unterbricht Jonna lakonisch meinen angelesenen Bericht. „Tschaikowsky war hier genau einmal für einige Wochen – als mittelloser Mann in seiner Krisenzeit. Er hatte kein Geld und in Haapsalu war das Leben billig. Ja, er mochte das Städtchen und hat in seinem Werk später öfter daran erinnert. Aber komponiert hat er hier vermutlich gar nichts – er war viel zu fertig – und die Bank wurde erst posthum zu seinem 100. Geburtstag aufgestellt."
„Ach ..."
Jonna lacht. „Und genau deshalb ist das hier der fünfte Grund, aus dem Menschen Haapsalu besuchen – der aber eigentlich nicht zählt."
„Verstehe", sage ich etwas konsterniert.
„Komm weiter!", sagt Jonna, die meine Enttäuschung bemerkt. „Es gibt ja noch zwei echte touristische Highlights! Und übrigens: Immerhin hat uns die Legende das Tschaikowsky-Festival beschert!"
Quelle: Felix Hau, Visit Estonia
4. Die Promenade, der Kursaal und der Afrika-Strand
Die Promenade – man muss es so lapidar feststellen – ist einfach tatsächlich wunderschön. Der Weg schlängelt sich am Ostseeufer entlang und dann kommt auch schon bald das berühmte hölzerne Kurhaus in Sicht, „das einzige im ganzen Land, das weitgehend im Originalzustand erhalten ist", erläutert Jonna. Das Gebäude ist wirklich prächtig. Es ist mit wunderbaren Holzschnitzereien versehen, die wie ein Spitzenbesatz wirken.
Versunken in die Vorstellung des mondänen Lebens, wie es hier zu den Haapsaluer Hochzeiten ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewesen sein muss, habe ich die Rechnung natürlich wieder ohne Jonna gemacht. Sie zeigt auf das erste Stockwerk und grinst breit: „Die Leute hier haben immer gesagt, dass sie sich beim Anblick des Kursaals freuen. Das mag auch daran liegen, dass dort oben zur Zeit der deutschen Besatzung ein Puff eingerichtet war; ‚Freudenhaus', sagt ihr dazu, glaube ich."
Zack! – Da bin ich wieder in der Gegenwart. Aber lachen muss ich auch. Jonna ist einfach wunderbar.
„Und jetzt kommt der Afrika-Strand, richtig?" frage ich.
„Genau", antwortet Jonna. „Weißt du, warum er so heißt?"
„Keine Ahnung", gestehe ich, „aber es gibt in Haapsalu ja noch weitere Anspielungen: ein Afrika-Pub, einen Afrika-Club ..."
„Hat alles denselben Grund. Und der findet sich hier am Strand – beziehungsweise: er fand sich hier am Strand."
„Erzähl!"
Quelle: Martti Volt, Visit Estonia
„Carl Abraham Hunnius war Mitte des 19. Jahrhunderts Arzt in Haapsalu. Eines schönen Tages ging er hier an der See spazieren und entdeckte, dass da Menschen sind, die sich mit Schlamm einschmieren, den sie dann während eines Sonnenbades auf ihrem Körper trocknen lassen. Die Leute erklärten ihm, dass ihnen das Linderung in Bezug auf zahlreiche Zipperlein verschaffe. Er untersuchte daraufhin den Schlamm, stellte irgendwelche Heilwirkungen fest und gründete mit dem Geld reicher Freunde das erste Heilschlamm-Sanatorium. Damit fing hier alles an."
„Und was hat das mit Afrika zu tun?"
„Ach so, klar, habe ich vergessen zu erwähnen: Die Leute sahen in ihrer Schlamm-Montur hier am Strand halt deutlich dunkler aus als sonst; deshalb wurden sie von der ganzen Stadt als ‚Afrikaner' bezeichnet."
„Echt – das ist der ganze Grund?"
„Ja! Manchmal sind Geschichten auch ganz simpel", lächelt Jonna. „Aber auch irgendwie süß, oder?"
5. Die Bischofsburg und die „Weiße Dame"
Wir verlassen den Strand, schlängeln uns durch eine kleine Gasse und stehen plötzlich mitten auf einem großen und gut gefüllten Parkplatz. „Alles kostenlos hier!", sagt Jonna. „Sie haben's mit Park-Tickets versucht, aber die hat keiner benutzt." Sie lacht. „Und wir Esten sind ja sehr zurückhaltend; eine Stadtverwaltung würde niemals auf ihrem Recht bestehen. Also kannste jetzt überall wieder frei parken."
An einem Ende des Parkplatzes erhebt sich die mittelalterliche Bischofsburg. Vor dem wolkenverhangenen Himmel wirkt sie wie die Kulisse für einen richtig guten Horrorfilm.
„Attraktion Nummer fünf", meint Jonna, die meinem Blick gefolgt ist. „Das ist der Grund, aus dem das kleine Dorf hier einst Stadtrechte verliehen bekam. Als Bischof sitzt man eben nicht in einem Dorf."
Wir betreten den frisch renovierten Burghof. „Wow!", entfährt es mir, „das ist echt schön geworden!"
„Jau. Hat einiges gekostet, hat sich aber ausnahmsweise mal gelohnt" erwidert Jonna in ihrer unnachahmlich trockenen Art. „Nur das Museum hier" – sie zeigt auf den einladenden Eingang –, „das hat irgendwie seinen Charme verloren. Und den Turm darf man auch nicht mehr besteigen."
Wir gehen um die Burg herum und bleiben vor jenem Fenster stehen, in dem alljährlich das Haapsaluer Gruselwunder zu bestaunen ist: „Und da oben drin, da sieht man dann diese weiße Dame", Jonna kichert, „also, wenn der Mond richtig steht und Fenster und Bäume im passenden Winkel bescheint."
„Och Jonna!" protestiere ich, aber die nimmt nur einen weiteren tiefen Zug aus ihrer Wasserflasche und schaut mich dann belustigt, aber auch ein bisschen genervt an: „Hör mal – du kannst dir überhaupt nicht vorstellen, was hier manchmal im August los ist. Alles komplett voll!" Sie rudert mit dem ausgestreckten Arm über der Wiese vis-à-vis des Gruselfensters herum. „Na immerhin", ergänzt sie, „ist daraus das alljährliche Horror- und Fantasyfilm-Festival entstanden. Und das ist echt gut!"
Quelle: Rivo Veber, Visit Estonia
„Und nun?" frage ich, während wir den Burghof verlassen.
„Und nun sind wir fertig und gehen in der Altstadt was Leckeres essen!"
„Ausgezeichnete Idee. Und: Danke für die tolle Führung! Ich lade dich natürlich ein."
Lassen Sie sich inspirieren ...
Last updated
19.10.2024