Ein perfekter Tag in Tartu – oder: Tartu für Fortgeschrittene
Wenn Sie bereits besichtigt haben, was zu besichtigen ist, ist Tartu noch lange nicht abgehakt. Jetzt erst wird es wirklich spannend!
Tartu, die zweitgrößte Stadt Estlands, wird gerne und zu Recht als kulturelle Hauptstadt und als geistiges Zentrum des Landes bezeichnet. Die 100.000-Einwohner-Stadt ist Heimat einer der ältesten Universitäten Nordeuropas. Und just dieser Umstand hat Stadtbild und Selbstverständnis der Einwohner seit jeher stark geprägt. Unser Autor hat sich in die Stadt Tartu verliebt, besucht sie immer wieder und gibt Einblick in (s)einen perfekten Tag vor Ort.
Tartu liegt an den Ufern des Flusses Emajõgi, verfügt über einige sehenswerte Museen – darunter das estnische Nationalmuseum – und ein sympathisches Stadtzentrum mit einer Fußgängerzone und vielen Bars und Restaurants.
Natürlich gibt es Dinge, die man in Tartu gesehen haben sollte:
- den Brunnen der küssenden Studenten auf dem schönen Rathausplatz
- das Gebäude der Universität
- den Park auf dem Domberg
- das Nationalmuseum
- das Wissenschaftszentrum AHHAA
und Weiteres mehr.
Das estnische Nationalmuseum
Es ist schon rein architektonisch einen Besuch wert!
Wer zum ersten Mal in der Stadt ist – und womöglich auch nicht sehr lange Zeit hat –, kann sich beispielsweise an unseren Tipps für einen Sechs-Stunden-Trip orientieren.
Dieser Beitrag hier ist für Menschen gedacht, die Tartu bereits einmal besucht und dabei alles offiziell Sehenswerte abgeklappert haben, die die Stadt also schon ein bisschen kennen und sich verliebt haben, so wie ich. Mein perfekter Tag in Tartu, den ich im Folgenden beschreiben werde, gibt natürlich auch noch längst kein vollständiges Bild; es handelt sich eher um eine sehr persönliche Auswahl an Sehenswürdigkeiten und Orten, die man vielleicht nicht auf Anhieb erkundet.
Meine Herberge
Ich weiß nicht genau, woran es liegt: Bislang komme ich in Tartu immer sehr spät abends an. Das ist aber kein Problem, denn das Hotel Soho – meine Herberge vor Ort – kennt keinen Feierabend; die Rezeption ist 24 Stunden lang besetzt. Ich mag das Hotel noch aus mehreren anderen Gründen: Es liegt sehr zentral mitten in der Fußgängerzone (Parken ist in der Regel trotzdem kein Problem; es gibt einen Hotelparkplatz), die Mitarbeiter sind überaus freundlich und hilfsbereit, das Frühstücksbuffet ist wunderbar, die Zimmer sind ausreichend groß, sehr sauber und hübsch.
Und sie sind klimatisiert. Man möchte zwar meinen, zu große Hitze sei in Estland jetzt nicht das vordringlichste Problem. Einer meiner Aufenthalte in Tartu fiel allerdings auf den Rekordsommer des Jahres 2018 mit bis zu 36 °C Tagestemperatur; ich bin daher gebranntes Kind.
Der Vormittag
Die Suppenstadt
Nach einem ausgedehnten Frühstück im Hotel zieht es mich in die Suppenstadt. Der Stadtteil Supilinn hat seinen lustigen Namen dem Umstand zu verdanken, dass seine Straßen so gut wie alle nach Gemüsesorten benannt sind. Früher war er das Armenviertel Tartus, in dem Arbeiter mit geringen Einkünften lebten – in Holzhäusern.
Und genau dieser Umstand hat den Stadtteil in den vergangenen Jahren zum Anziehungspunkt junger, alternativer Familien gemacht: Sie kaufen die Häuser und renovieren sie nach und nach. Das gediegen sanierte und farbenfrohe Holzhaus ist heute Markenzeichen des Stadtteils, in dem es einen Verschönerungsverein gibt, der in jedem Jahr die hübscheste Renovierung auszeichnet und in jedem Frühjahr das „Suppenfest", auf dem das Quartier sich selbst feiert.
Man kann hier wunderbar durch die netten Straßen schlendern und entdeckt immer wieder etwas Neues. Und auch Legendäres gibt es zu bestaunen: In der Hausnummer 6 der Straße Herne ("Erbse") ist bis heute der estlandweit berühmte Laden „Herne Pood" beheimatet. Hier lässt sich so gut wie alles erwerben, was man im Alltag benötigt – von Lebensmitteln über Glühbirnen bis zu Nähzeug und Gartenscheren. Offiziell hat das Geschäft von 8 bis 22 Uhr geöffnet. Zur Legende wurde es durch den Umstand, dass man trotz landesweiten Verbots auch nach 22 Uhr Alkohol bekam – zumindest, wenn man dem Inhaber als Bürger Supilinns bekannt war.
Das Möku
Auf dem Rückweg von der Suppenstadt mache ich einen Kaffee-Stopp im „neuen" Möku. Die Café-Bar ist mittlerweile umgezogen. Das Ambiente ist sehr nett, bei schönem Wetter kann man unter schattigen Bäumen draußen sitzen; es gibt regelmäßig Konzerte, Events und künstlerische Darbietungen.
Früher war das Möku am Ende des geschäftigen Teils der Fußgängerzone in einem winzigen Souterrain-Laden untergebracht und eine Zeit lang die In-Kneipe ganz Estlands. Regelmäßig war die komplette Fußgängerzone proppevoll, weil in den Laden selbst höchstens 20 Menschen passten.
Quelle: Privatarchiv, ca. 2012
Karlova und Aparaaditehas
Auf der anderen Seite des Stadtzentrums gibt es ein weiteres Holzhaus-Viertel: Karlova. Und genau dort zieht es mich jetzt hin. Während in Supilinn eher das grün-alternative Bürgertum zu Hause ist, haben sich in Karlova Hipster und sonstige Bohemiens etliche Holzhäuser unter den Nagel gerissen. Auch hier kann man stundenlang flanieren und hübsche architektonische Entdeckungen machen.
An einer der größeren Straßen, Tähe, liegt das Hipster-Epizentrum: die Bar Barlova. Wie im Möku erwartet den Gast auch hier neben Getränken und Essenskleinigkeiten regelmäßig Kunst- und Kulturgenuss.
Da ich nach der langen Wanderung allmählich ernstlich Hunger bekomme, zieht es mich heute jedoch ein paar Straßen weiter in Tartus „Creative City" Aparaaditehas. Nach dem Vorbild Telliskivis in der Hauptstadt Tallinn hat die Tartuer Kreativszene sich auf einem alten Fabrikgelände einen Spielplatz geschaffen: Hier gibt es Veranstaltungen, verschiedene Läden mit hipper Mode oder 1000-und-einer Biersorte, Künstler-Ateliers, Werkstätten und Gastronomie.
Im hübschen Restaurant Aparaat kann man für kleines Geld das Tagesgericht essen – und genau das mache ich jetzt. Auffallend sympathisch: Obwohl Aparaaditehas ein sehr junges Konzept ist, verkehren hier durchaus auch ältere Menschen. Jung ist eben eine Eigenschaft, die eher eine Einstellung und Lebenshaltung beschreibt, als das biologische Alter.
Der Nachmittag
Das Gelände des Nationalmuseums
Ich will es gleich sagen: Man kann die Strecke vom Zentrum aus auch gut laufen. Aber ich bin heute faul und nehme das Auto, um den Fluss zu überqueren und zu zwei Stationen im nördlichen Teil Tartus zu gelangen. Parken kann man direkt am Nationalmuseum. Das Museum selbst kenne ich natürlich schon – und ich nehme an, dass es allen, die bis hier her gelesen haben, genau so geht.
Das Museumsgebäude ist aber auch von außen immer wieder sehenswert und faszinierend. Es wurde in die Flucht der Landebahn einer ehemaligen sowjetischen und damals streng abgeschirmten Militärflugbasis gebaut und ist architektonisch sehr beeindruckend. Zum Museum gehört heute auch das weitläufige Gelände dieser ehemaligen Sowjeteinrichtung: der hübsche Raadi-See und oberhalb ein parkähnlich angelegter Bereich mit Überresten ehemaliger Gebäude der Sperranlage.
Gutshof und Park Raadi
Wer hier spazieren geht, entdeckt bald einige große Schwarz-weiß-Fotos estnischer Bürger, die in den Fensteraussparungen eines alten Backsteingebäudes befestigt worden sind. Diese Fotos stehen symbolisch für die Rückeroberung und zivile Nutzbarmachung des staatlich-sowjetischen Geländes durch die Bürger Tartus. Ursprünglich – also noch vor der sowjetischen Nutzung – gehörte das ganze Gebiet übrigens zum Gutshof Raadi.
Quelle: Felix Hau, Visit Estonia
Der Friedhof Raadi
Durch den Wald auf der anderen Seite des Sees gelangt man nach wenigen Minuten an die alte Ausfallstraße Richtung Norden. Und wenn man die überquert und wenige Meter an der Straße entlang zurück Richtung Stadtzentrum läuft, erschließt sich zur Rechten der riesige und schöne Friedhof Raadi, auf dem etliche prominente Bürger Tartus beerdigt wurden. Das Friedhofsgelände wirkt wunderbar verwunschen, ist an heißen Tagen hübsch schattig und eignet sich hervorragend für einen ausgedehnten besinnlichen Spaziergang.
Quelle: Felix Hau, Visit Estonia
Das Café Werner
Jetzt aber erstmal genug gelaufen für heute.
Ab zum Auto und dann zurück in die City; Kuchenhunger macht sich breit und wo könnte man den besser stillen, als im wunderbaren Café Werner – jenem Café mit langer studentischer Tradition, in dem in alten Zeiten akademische und politische Debatten stattfanden, das aber auch heute noch gern von Studenten frequentiert wird.
Die Kuchenauswahl ist gigantisch, die einzelnen Kreationen sind außergewöhnlich und überirdisch lecker. Bei schönem Wetter kann man auch im gemütlichen Innenhof Platz nehmen. Der Vollständigkeit halber: Wie beinahe jedes estnische „Kohvik" (=Café) bietet auch das Werner kleine herzhafte Speisen an.
Quelle: Esther-Maria Roos, Visit Estonia
Der Abend
Das Kunstmuseum
Abends treffe ich mich mit zwei Freunden. Esther kenne ich seit Kindheitstagen, sie ist Kölnerin, Estland-Fan wie ich und rein zufällig auch gerade im Land. Gottfried ist ursprünglich Lübecker, lebt aber schon seit langen Jahren in Tartu, kennt die Stadt wie seine Westentasche, hat zu beinahe jedem Ort ein entsprechendes historisches Foto auf seinem Tablet und uns schon wiederholt kundig durch die Straßen geleitet.
Wir statten Tartmus, dem sympathischen Tartuer Kunstmuseum, einen Besuch ab. Es ist im „schiefen Haus" am Rathausplatz untergebracht und zeigt Arbeiten estnischer Künstler wie auch solche, die einen Bezug zu Estland haben.
Die Ausstellungen werden großenteils aus der eigenen, über 20.000 Werke umfassenden Sammlung bestritten. Das Museum übernimmt aber auch die Funktion der deutschen Kunstvereine, präsentiert neue zeitgenössische, bisweilen provozierende Kunst und ist immer wieder einen Besuch wert.
La Dolce Vita und ein Stadtbummel
Zum Abendessen geht's ins La Dolce Vita. Ja, das ist ein Italiener. Auch die Esten gehen nicht täglich estnisch essen. Das Dolce Vita wird von Tartuern aller Schichten und Lebensalter besucht und bietet ausgezeichnete italienische Küche. Für warme Abende gibt's einen lauschigen Freisitz im Hinterhof.
Der anschließende kleine Stadtbummel führt uns unter anderem an die Bogenbrücke (Kaarsild) über den Emajõgi, die abends sehr stylisch beleuchtet wird.
Vein ja Vine
Dann geht es über den Rathausplatz in die Fußgängerzone und dort in die großartige Weinbar Vein ja Vine. Man sollte aber zu Mehreren sein, wenn man hier einkehrt und nicht erheblich trinkfest ist, denn in der Bar wird nicht glasweise ausgeschenkt, sondern man sucht sich eine gute Flasche aus dem Vorrat aus und nimmt die mitsamt Gläsern mit an den Tisch.
Das Ambiente ist, wie es in der Weinbar einer Studentenstadt sein soll: rustikal ungezwungen. Tartu erinnert mich ohnehin seit jeher an Heidelberg – die Stadt, in der ich einst studiert habe – und diese Bar passt wunderbar ins Bild. Außerdem hat man's von hier nicht weit bis zum Bett, denn das Hotel Soho ist direkt vis-à-vis.
Quelle: Vein ja Vine, Visit Estonia
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Last updated
20.11.2024