Merkwürdiges Estland – Streifzug durch eine besondere Kultur
Im Folgenden haben wir einige Dinge zusammengetragen, die für Esten völlig alltäglich sind – für Besucher allerdings nicht.
Estland ist ein Wunderland. In mehrfacher Hinsicht: Es ist natürlich ganz wundervoll, bisweilen aber auch ein bisschen wunderlich.
Es ist ein relativ kleines Land mit einer geringen Bevölkerungsdichte, viel Natur, Raum und Zeit und einer völlig eigenständigen Kultur. Diese Letztere ist auf eine konstruktive Weise eklektisch; sie integriert zum Beispiel heidnische Traditionen, skandinavische Ideale, germanischen Pragmatismus und einen Hang zur technischen Innovation. Die Kombination ist ausgesprochen originell und macht Estland für jeden Besucher zu einem echten Erlebnis.
Liebenswürdige Verhaltensauffälligkeiten
Beginnen wir mit ein paar wahllos herausgegriffenen Merkmalen, um warm zu werden:
- Die Esten bestehen darauf, dass ihr Land über mehr als 2.300 Inseln verfügt. Man hat keine Chance, das zu hinterfragen. Ok, geben die Esten dann nämlich zu: manche von den Inseln sind wirklich sehr klein. Aber hey! Insel ist Insel!
- Auf dem Land und in Dörfern denken die Menschen gar nicht daran ihre Türen abzuschließen. Wozu? Dann muss man sie ja wieder aufschließen. – (Auch in Städten ist die Kriminalitätsrate in Estland übrigens sehr gering.)
- In ländlichen Gebieten haben die Menschen keine Adressen, sondern ihre Höfe haben Namen. Das ist ja auch viel netter.
- Die Esten sind groß, sehr groß sogar. Im weltweiten Vergleich stehen sie an dritter Stelle, nur Niederländer und Letten sind größer.
- Apropos Letten: Esten und Letten pflegen eine leidenschaftliche (und liebevolle) wechselseitige Feindschaft. Wer aus Deutschland kommt und deshalb beide Staaten und Kulturen bis dato als Teil „des Baltikums" begriffen hat, wird sich über die stets und ständig anzutreffenden Witze wundern. Letten halten Esten beispielsweise für wahnsinnig langsam. Die Esten gestehen das ein, finden aber, dass sei immer noch besser als, wie die Letten, sechs Zehen am Fuß zu haben. Und überhaupt: die Finnen sind noch viel langsamer!
Esten haben eine große Naturverbundenheit ...
Naturverbundenheit, Volksglaube und magisches Denken
Nein, es ist keine Legende – sie tun es wirklich! Esten umarmen ausgesprochen gern Bäume. Man könnte fast sagen, dass im nördlichsten baltischen Staat die meisten und leidenschaftlichsten Baumumarmer der Welt leben! Die Esten haben eine ganz besondere und innige Beziehung zur Natur und insbesondere zum Wald. Bäume sind Freunde der Menschen; sie spenden Energie. Und die Wälder beherbergen allerlei Schutzgeister, weshalb man im Wald nicht schreien oder brüllen sollte, denn er ist ein heiliger Ort.
Wenn Sie sich im Land zufällig eine Erkältung einfangen, stellen Sie sich bitte auf folgenden Hausmittel-Tipp ein und fangen Sie gar nicht erst an, über Sinn und Zweck zu diskutieren: Tränken Sie Wollsocken mit Wodka und ziehe Sie die über Nacht an. Nein, nicht fragen, einfach machen! Wirkt!
Auch manch Aberglaube spielt in Estland nach wie vor eine bedeutende Rolle. Zum Beispiel spucken Esten dreimal über die Schulter, wenn eine schwarze Katze die Straße überquert oder um sie herumläuft. Wenn zwei Menschen spazieren gehen und ein Strommast oder ein Mülleimer zwischen ihnen steht, sollten sie sich anschließend noch einmal begrüßen, sonst bringt das Unglück. Das mit dem zerbrochenen Spiegel und den sieben Jahren Liebesunglück kennen sie auch. Und bitte: niemals im Haus pfeifen, sonst wird es abbrennen!
Gleichzeitig ist Estland eines der am wenigsten religiösen Länder der Welt, die meisten Menschen sind Atheisten. Lustigerweise nehmen die Esten gerade deshalb die Ehe sehr ernst und heiraten wohlüberlegt und relativ spät.
Sie lieben es: kaltes Wasser
Die Sauna-Tradition gehört so eng wie wenig anderes zur estnischen Kultur. Und natürlich springt man danach in eiskaltes Wasser!
Kulinarische Besonderheiten
Esten essen gerne gut und legen Wert auf frische, regionale Zutaten. So weit, so gut. Aber es gibt da auch ein paar merkwürdige Vorlieben:
- Die ganze Welt schwärmt von Pulled Pork und anderem Geschnetzeltem, aber die Esten mögen es nicht. Sie sagen, sie hätten nicht das Gefühl, dass sie da etwas kauen.
- Genau anders herum ist es beim Brot: Während die meisten Menschen eine schöne Kruste für ein Qualitätsmerkmal halten, finden die Esten, dass ihr "must leib" (traditionelles Schwarzbrot) außen weich sein muss, weil es sonst im Mund kratzt.
- Pilze und Beeren führen in den Supermärkten des Landes ein trauriges Dasein, denn beides sammelt jeder Este lieber selbst.
- Eines der traditionellen Winter- und Weihnachtsgerichte in Estland ist die Blutwurst, die hier "verivorst" genannt wird. Es ist immer wieder ein großer Spaß, wenn Ausländer versuchen, das Wort auszusprechen, weil sie meistens "very worst" sagen, was schwer nach falschem Englisch und dann so klingt, als sei diese Blutwurst das Schlechteste, was man je gegessen hat. Aber das ist ganz und gar nicht der Fall! Probieren Sie verivorst unbedingt; sie wird im Winter von fast allen Restaurants angeboten.
- Im Winter wandert man gerne durch die verschneite Natur und macht unterwegs ein – Winterpicknick!
- Die Esten marinieren in der kalten Jahreszeit Kürbisse und stellen daraus eine Art Marmelade her, die süß und sauer zugleich schmeckt. Da die Kürbisse sehr groß sind, ist es üblich, nur eine Hälfte zu verwenden und die andere im Familien- und Freundeskreis zu verschenken. Wenn Sie also in Herbst und Winter ständig Menschen mit Kürbishälften herumlaufen sehen: Wundern Sie sich nicht!
Leckere Winterküche
Auch wenn mittlerweile Modernität in den Küchen des Landes Einzug gehalten hat: Man isst hier zum großen Glück schon noch ganz gern deftig.
Eine andere Art der Kommunikation
Esten gelten als zurückhaltend und freiheitsliebend. Beides stimmt. Aber es gibt ein Missverständnis: Beides führt keineswegs dazu, dass Esten nicht kommunikativ und hilfsbereit wären. Das sind sie nämlich trotz – vielleicht sogar aufgrund ihrer prinzipiellen Zurückhaltung.
Außerdem lieben Esten ihre Sprache, die, finden sie, nach Feen- und Elfenplausch klingt.
Diese Sprache hat auch ganz objektiv einige Besonderheiten:
- Die estnische Sprache gehört nicht zu den germanischen, slawischen oder baltischen Sprachgruppen. Tatsächlich ist sie mit den meisten anderen europäischen Sprachen überhaupt nicht verwandt, da sie zusammen mit Finnisch und Ungarisch zur finno-ugrischen Sprachfamilie gehört.
- Im Estnischen kann man mittels Genitiv-Konstruktionen seeeeehr lange und sehr seltsame Wörter bilden. Und dann ist da der Kommunikationsstil und die Art und Weise, wie Esten denken. Ein US-Comedian hat einmal gesagt: Je weiter man in den Osten Europas reist, umso rationaler werden die Menschen. Da ist was dran!
- Im Vergleich zu anderen Ländern ist der estnische Kommunikationsstil geradlinig und ehrlich. Man nimmt verbal nicht so viel Rücksicht auf Gefühle und Empfindlichkeiten, sondern sagt nüchtern, was Sache ist.
- Überhaupt sind die Esten sehr rational und versuchen stets, sich der Welt mit Vernunft zu nähern – nicht zuletzt, um etwaige Probleme möglichst pragmatisch zu lösen.
Insgesamt sind Esten zurückhaltend, wenn es darum geht, über ihr Privatleben zu sprechen, aber wenn man sich erstmal besser kennt, zusammen wandert oder eine Sauna besucht, werden sie durchaus zutraulicher.
Sie können das alles selbst vor Ort erleben!
Besuchen Sie Estland – die Esten freuen sich auf Sie!
Lassen Sie sich inspirieren ...
Last updated
20.11.2024