
Mein Setomaa: Ein Roadtrip durchs Land der singenden Seto-Mütter
Von Võru über Luhamaa bis Värska: Einblicke in die lebendige Welt der Setukesen – persönlich, poetisch und manchmal ziemlich überraschend.
Im äußersten Südosten Estlands, an der Grenze zu Russland, findet man Setomaa. Hier leben die Setukesen, ein Volk mit eigener Sprache, eigenem Glauben, eigener Kultur – und einem erstaunlichen Selbstbewusstsein. Dieser Artikel nimmt Sie mit auf einen Roadtrip durch ein Stück Estland, das ganz anders ist – und gerade deshalb so faszinierend.
Von Võru aus ins Unbekannte – Roadtrip-Start in Südost-Estland
Südestland, ein Sommermorgen im August. Die Luft duftet nach Kiefern, das Licht flirrt durch die Baumwipfel – besser kann ein Tag kaum beginnen. Wir verlassen das Hotel Kubija, das mit seinem SPA-Bereich, dem doppelten Seezugang und der stillen Lage mitten im Wald eigentlich schon gemütlich genug wäre, um einfach dort zu bleiben.
Doch unsere Reise soll uns weiterführen, hinein in eine Region, die vielen noch unbekannt ist: nach Setomaa, in das Land der Setukesen, oder Seto, wie sie auf Deutsch auch genannt werden.
Võru, die nächstgelegene Stadt, empfängt uns mit ruhigem Charme: breites Kopfsteinpflaster, ein großzügiger Hauptplatz und eine bronzene Schweineskulptur, die uns mit einem eigensinnigen Grinsen begrüßt. Von hier aus beginnt unser Weg nach Südosten – dorthin, wo Estland eigentlich aufhört, wo allerdings noch viele Geschichten beginnen ...

Urheber des Bildes: Felix Hau, Visit Estonia

Obinitsa entdecken: Das kulturelle Zentrum der Setukesen
Obinitsa wirkt auf den ersten Blick unscheinbar – ein kleines Dorf, das sich entlang der Straße zieht, von Feldern umgeben, mit viel Himmel über den Dächern. Und doch ist es der vielleicht bedeutendste Ort für die Seto-Kultur.
Unsere Seto-Gastgeberin für den Tag – kenntnisreich, humorvoll und herzlich – zeigt uns nicht nur die Sehenswürdigkeiten, sondern öffnet auch Türen zu Geschichten, die nicht in Reiseführern stehen.

Urheber des Bildes: Hillary Milán, Visit Estonia
Im örtlichen Seto-Museum begegnen uns Alltagsgegenstände, Trachten, Fotografien – und ein ganz besonderes Angebot: ein Kulturworkshop, bei dem sich meine Kollegin tatsächlich in eine Seto-Frau verwandelt.
Schicht für Schicht wird die traditionelle Kleidung angelegt, jedes Detail hat Bedeutung. Was zunächst wie Verkleidung erscheint, wird schnell zu einer stillen Lektion über Identität.

Urheber des Bildes: Felix Hau, Visit Estonia
Leelo, Tracht und Tradition: So lebt die Seto-Kultur heute
Im Museum in Obinitsa begegnet uns auch der Leelo – jener mehrstimmige Gesang, der zum immateriellen UNESCO-Weltkulturerbe zählt. Gesungen wird meist von Frauen, die ihre Stimmen übereinanderlegen wie farbige Stoffe. Es sind Lieder voller Stolz, Schmerz, Witz und Weisheit. Wer einmal Leelo live gehört hat, weiß: Diese Musik trägt Erinnerungen. Und sie geht unter die Haut.

Urheber des Bildes: Hillary Milán, Visit Estonia
Am anderen Ende Obinitsas liegt die Transfigurationskirche, deren goldene Ikonen im Halbdunkel leuchten. Unser Guide vor Ort – ebenfalls tief in der lokalen Kultur verwurzelt – erzählt die Geschichte der Kirche, führt uns über den benachbarten Friedhof und später in sein privates Home-Café, Taarka Tarõ Köögikõnõ.
Zum Mittagessen gibt es eine wunderbar-herzhafte Suppe und der Hausherr erzählt dabei, wie er sich ehrenamtlich für den Erhalt der Seto-Traditionen engagiert.

Urheber des Bildes: Felix Hau, Visit Estonia
Glaube zwischen Ikonen und alten Quellen
In Setomaa fand nie ein Kreuzzug statt. Als das Christentum hier Einzug hielt, kam es in seiner orthodoxen Form – mitgebracht von russischer Seite, langsam und ohne Zwang. Weil Moskau weit entfernt war, galt lange das nahegelegene Kloster in Petschory als wichtigste geistliche Instanz. Es liegt nur etwa zehn Kilometer von Obinitsa entfernt, aber jenseits der heutigen Grenze.
Bis heute sind Spuren vorchristlicher Rituale im setukesischen Glauben lebendig. Etwa, wenn an Quellen Gaben niedergelegt werden – Silbermünzen oder Speisen, als Zeichen der Bitte oder Dankbarkeit. Oder wenn Familien an Feiertagen zu den Gräbern ihrer Vorfahren pilgern, dort verweilen und gemeinsam essen.
Die ältesten und größten Friedhöfe der Setukesen befinden sich allerdings auf russischer Seite, in Petschory. Früher war der Grenzübertritt dorthin unkompliziert – viele besuchten regelmäßig die Gräber ihrer Angehörigen. Seit der Pandemie und vor allem seit dem Krieg in der Ukraine ist die Grenze jedoch fast vollständig geschlossen. Für viele Familien ist der Kontakt zu diesen Orten seit Jahren abgerissen.

Urheber des Bildes: Hillary Milán, Visit Estonia
Kreativ und eigenständig: Seto-Kunst zwischen Druckwerkstatt und Galerie
Unsere Reise führt uns weiter in die Seto-Studio-Galerie, betrieben von Evar Riitsaar und Ülle Kauksi – er Künstler, sie Dichterin, beide mit Herz und Haltung. In ihrer Werkstatt werden alte Drucktechniken neu interpretiert, und wer mag, kann selbst Hand anlegen.
Die Galerie nebenan, der sogenannte „Kunstisaal“, zeigt Werke zeitgenössischer Seto-Kunst – und lässt erkennen, wie aus Tradition immer wieder Neues entsteht.

Urheber des Bildes: Felix Hau, Visit Estonia
Ein Mythos auf der Seebühne: Seto-Odyssee unter freiem Himmel
Am Abend fahren wir nach Luhamaa, wo auf dem Gelände des Biobauernhofs Anzelika ein ganz besonderes Ereignis stattfindet: das Rockmusical „Seto Odüssei“, für das eigens der kleine See samt angrenzendem Wiesenhang auf dem Gelände in ein Freilufttheater verwandelt worden ist.
Geschrieben von Ülle Kauksi, vertont von Evar Riitsaar – das sind just die Beiden, die wir nachmittags in ihrer Galerie kennen gelernt haben –, erzählt das Musical die Odysseus-Geschichte – mitreißend, wild, poetisch … und in Setosprache, was selbst meine estnischen Begleiter vor das eine oder Andere Verständnisproblem stellt.
Nach der Pause, alle haben gerade wieder Platz genommen, öffnet sich der Himmel und es schüttet wie aus Kübeln. Das ist der Moment, in dem ich bemerke, dass ich meine Wind- und nicht meine Regenjacke mitgenommen habe. Während alle anderen Zuschauer sich routiniert ihre wasserdichten Umhänge überstreifen und dem Geschehen weiter mit voller Aufmerksamkeit folgen, bin ich jetzt sehr abgelenkt. Aber nur, bis ich komplett (und ich meine: komplett) nass bin; dann geht’s wieder.
Die faszinierende Vorstellung unter freiem Himmel, mit Musik, Licht, begeistertem Publikum und einem veritablen Platzregen ist eines dieser Estland-Erlebnisse, die lange bleiben.

Urheber des Bildes: Felix Hau, Visit Estonia
Natur und Nachklang: Erholung im Ilmaveere Resort
Nach so viel Eindrücken tut es gut, in der Natur zur Ruhe zu kommen. Das Ilmaveere Resort, verborgen zwischen Wald und See, ist ein Ort der stillen Schönheit. Klare Linien, warme Materialien, viel Raum für Gedanken und ein ausgezeichnetes Restaurant!
Am Hang entdecken wir den Denkmalpark für die „singenden Mütter“ – ein würdiger Ort, der jenen Frauen gewidmet ist, die mit ihren Stimmen die Kultur der Setukesen über Jahrhunderte hinweg lebendig gehalten haben.

Urheber des Bildes: Felix Hau, Visit Estonia

Wandern, staunen, Grenzen spüren – Highlights in Setomaa
Wer die Gegend zu Fuß erkunden möchte, findet zahlreiche Wanderwege, etwa rund um Obinitsa oder zum Aussichtsturm Meremäe, von dem aus sich die ganze Weite Setomaas überblicken lässt. Auch andere Outdoor-Aktivitäten wie Fahrradtouren oder Kayaking können hier in der reichen Natur des estnischen Südostens mit viel Spaß betrieben werden.
Ein Kuriosum ist der „Saatse-Stiefel“, bei dem es sich, wenn man so will, um einen etwas tragischen geografischen Unfall handelt. Ein Landstück, das zum russischen Territorium gehört, ragt nach Estland hinein – und zwar an einer Stelle, an der eine Straße zwei estnische Orte verbindet.
Hier führt somit ein kleines Stück Straße durch russisches Staatsgebiet! Aussteigen verboten, Navi- und Mobilfunkstörungen inklusive. Letztere gibt es übrigens immer wieder auch auf sicherem estnischen Boden entlang der Grenze; man erlebt hier live, was das viel zizierte “Jamming” in der Praxis bedeutet: kein Empfang mehr.
Es gibt übrigens ein ganzes Museum in Saatse, das man sich ruhig mal anschauen kann, während man ohnehin keinen Navi-Empfang hat. :-)
Ein lohnender Abstecher führt nach Värska, wo das Bauernhofmuseum und die orthodoxe Georgs-Kirche weitere Einblicke in die Lebenswelt der Setukesen geben.
Und wer die Region zur richtigen Zeit besucht, sollte das Treski-Fest und die Seto-Kaffeetage nicht verpassen – Gelegenheiten, bei denen alles Aufregende dieser Kultur – Musik, Tanz und Kulinarik – zusammenkommen.

Urheber des Bildes: Hillary Milán, Visit Estonia
Warum sich eine Reise ins Land der Setukesen lohnt
Setomaa drängt sich nicht auf. Es verlangt keine schnellen Likes, keine Checkliste, kein Spektakel. Stattdessen schenkt es Begegnungen, Geschichten, Klänge und Stille. Es ist eine Region, die sich nur jenen wirklich öffnet, die bereit sind, langsamer zu werden, hinzuhören und zu staunen. Wer das tut, wird reich beschenkt – mit Eindrücken, die bleiben.
Und vielleicht, ganz vielleicht, klingt auch lange nach der Rückkehr noch ein Hauch von Leelo im Ohr – und im Herzen.
Lassen Sie sich inspirieren ...
Last updated
22.10.2025
